Strenge Flächen im Maß:

E-143webZu den Collagen von Marion Jacobs (1943 – 2002)

von Christa Lichtenstern
In ein mildes, tiefes Blau eingelassen, senkt sich ein dünner Rahmen ins Bild (Abb. 1). Er umspannt – unten auf Abstand gesetzt und damit räumlich einführend – ein Bild im Bild: drei größere, irreguläre Segelflächen umgreifen eine rote Form, die sich schwebend im Zentrum hält. Ihre Fläche ist laviert und bewahrt sich so eine pulsierende Lebendigkeit, die den übrigen Papierfragmenten in geripptem Weiß, in Beige und einem braunen Teerpapier abgeht. Das warme Rot antwortet dem sanften Blau des äußeren Bildgrundes. Es weiß sich leicht und sicher zu halten wie ein wendiger Navigator im Meer.

Nichts an dieser Collage von Marion Jacobs, die 1995 ohne Titel entstand, ist überflüssig. Jede Kontur, jede Fläche „sitzt“. Eine auffällige proportionale Stimmigkeit durchzieht die ganze Komposition und gibt ihr – den geringen Maßen zum Trotz – eine eigene Monumentalität.

Woher bezog Marion Jacobs diese formale Sicherheit? Welchen Weg ging sie zuvor? Wer waren ihre Impulsgeber? Betrachten wir zunächst den Werdegang der Künstlerin. Anschließend sei versucht, an bestimmten Beispielen und Serien ihre bildnerischen Anliegen zu umreißen und ihre besondere Begabung für den Dialog mit „ihren“ Heroen, d.h. vor allem mit Henri Laurens, Matisse und Oteiza zu erkunden.

1943 in Aachen geboren, studierte Marion Jacobs zunächst in Münster von 1962 – 1965 Kunstgeschichte. 1965 – 1967 absolvierte sie eine Buchhandelslehre. 1968 zieht sie nach Stuttgart, um hier in den Kunsthandel, genauer in die renommierte, seit 1930 bereits existierende Galerie Valentien zu wechseln. Sie heiratet und wird 1973 geschieden. Für die nächsten 25 Jahre bleibt sie die rechte Hand von Dr. Freerk C. Valentien und ist eng mit dessen Frau Rosemarie, gleichfalls eine studierte Kunsthistorikerin, befreundet. Als Künstlerin ist Marion Jacobs Autodidaktin. Ab 1977 drängt es sie zur Collage. Dabei überwiegen zunächst Erzählmotive, die zartfarbige, auch feine Stoffreste einschließende Kompositionen bestimmen. Man spürt diesen Arbeiten an (Abb. 2), dass Marion Jacobs, eine hohe, schlanke Erscheinung, ein Ballettnarr war. Auch das Informel, aber auch Tapies, wirken auf ihre frühen Arbeiten ein.

Die Künstlerin gewinnt rasch Freunde und stellt seit 1979 kontinuierlich aus (in Esslingen, Köln, Stuttgart, München, Barcelona, Salzburg und Frankfurt/M.). 1990 heiratet sie den Kölner Galeristen Helmut Dreiseitel, mit dem sie schon zuvor durch eine enge Geistesverwandtschaft verbunden war. Vierzehn gemeinsame Jahre waren beiden beschieden, Jahre voller Arbeit und Zuversicht, in denen sie ihr Galeriehaus in der Aachener Straße aufbauten und erfolgreich Künstler wie Picasso, Max Ernst, Miro, Gonzales, Victor Brauner, Henry Laurens, Germaine Richier, Chillida, Hans Steinbrenner u.a.m. vertraten und vor allem den spanischen Bildhauer Andreu Alfaro nach Deutschland holten. Wer ihnen damals begegnen durfte, schien von ihrem Glück und ihrem Idealismus wie beschenkt. Spätestens seit wir 1989 auf einem Alfaro/Goethe-Symposium gemeinsam in Madrid tätig waren, wurden wir Freunde. Am 25. August 2002 musste Marion ihren so tapfer ausgetragenen Kampf gegen den Krebs aufgeben.

Marions Impulsgeber lassen sich klar benennen. Da war zunächst ihr Arbeitgeber. (?) Valentien, der Seniorchef der Galerie, der sie in die Malerei und Zeichnung der École de Paris einführte und ihrer ausgeprägten Frankophilie neue Nahrung gab. Gleichzeitig wurde Marion Jacobs durch die Stuttgarter Galeriearbeit mit einem anderen Interessengebiet der Valentiens vertraut, nämlich der Plastik. Der tägliche Umgang mit den Werken von Maillol, Laurens, Zadkine, Alfred Lörcher, Horst Antes oder Jürgen Brodwolf, um nur diese zu nennen, schulte ihr Sensorium für das Material, für die Form und den Raum. Keineswegs zu unterschätzen war aber in der großen Einflußsphäre der Valentienschen Galerie noch ein anderes: Die hier gemeinsam gelebte Überzeugung, dass Kunst etwas ist, was im gelungenen Fall geistige Mitteilungen enthält, die an die Grundfesten unserer Existenz rühren. Das folgende Bekenntnis des Kölner und Münchner Galeristen Heiner Friedrich hätte Marion Jacobs-Dreiseitel voll unterschrieben: „Das Kunstwerk ist eine schöpferische Manifestation, die in keiner Weise durch das Geld bewertbar wird. Der Wahn des Kapitals schafft Dunkelheit und macht die Kunst unsichtbar.“ (1)

Marion las gern Albert Camus, Simone de Beauvoir, aber auch Rabelais, Jacques Villon oder die Fabeln von Fontaine. Später lernte sie durch Helmut Dreiseitel den Jazz lieben. Ihre geistige Sozialisation erfuhr die Künstlerin nachwirkend im französischen Existentialismus. Der in ihrer Jugend allenthalben in Europa gesuchte Aufbruch zu selbstbestimmter Freiheit entsprach ihrem zutiefst unabhängigen Wesen. Diese Souveränität war bei ihr gepaart mit einer großen Bescheidenheit, was ihre persönliche Stellung als Künstlerin anging. Lange Jahre habe ich gar nicht gewusst, dass sie ernsthaft künstlerisch arbeitet.

Marion Jacobs Kunst entstand mitten im Leben – genauer am 2,50 m langen Esstisch. Hier konnte sie ihre kostbaren Papiere – sie liebte altes Bütten aus der Auvergne, bedruckte Papiere oder Restbestände alter Atlanten – ausbreiten, ihre Materialität erfühlen, ihre Farben aufnehmen und sich einstimmen. Gern geschah dies in den Zeiten, wenn Helmut beruflich unterwegs war und sie ihre Ruhe hatte.

 

Innere Dialoge

Die Lehrer, die Marion verehrte, waren ihr im Geist zu Freunden geworden. Die inneren Dialoge, die sie hier pflegte, führten ihre Collagen zu neuer Strenge und Reife. Am stärksten und durchgängigsten scheint sie von der Auseinandersetzung mit den kubistischen Klebebildern des französischen Künstlers Henri Laurens (1885 – 1954) profitiert zu haben. Diesem großen Bildhauer, Zeichner und Graphiker, dessen große Einzelausstellung sie 1972 in Paris gesehen hatte, sollte sie allein sechs „Hommagen“ widmen. In ihrer Liebe zu Laurens wussten sich Marion und Helmut Dreiseitel einig. Mehrfach stellten sie den Franzosen in der Aachener Straße mit Zeichnungen, Radierungen und Künstlerbüchern aus.

Laurens wusste meisterhaft auf der Klaviatur des synthetischen Kubismus zu spielen. Seine Collagen (1915 – 1920) arbeiten mit großzügig kolorierten Flächen und bauen diese in den imaginären Raum – ähnlich wie seine zeitparallelen Konstruktionen den wirklichen Raum gliedern. Die Schärfe seiner kubistischen Schnitte, die Rhythmik und die Klarheit seiner Flächenordnungen bezeugen die „griechische“ Dimension dieses großen modernen Klassikers. Als seine Maxime formulierte er u.a. – wobei er auch für seine Graphik sprach: „Die Skulptur ist wesentlich eine Inbesitznahme des Raumes, die Konstruktion eines Dinges mit Hohlräumen und Volumen, Masse und Leere, deren Wechsel, deren Kontraste, deren ständige und gegenseitige Spannung und endlich deren Gleichgewicht (equilibre). Von der Intensität einer solchen Formen-Komposition hängt das relative Gelingen eines Werkes, die glückliche Lösung eines besonderen Problems, ab. Trotz ihrer Bewegung soll sie statisch sein, dann wird der Raum von ihr her strahlen.“ (2)

Diese Laurens‘sche Ästhetik des „strahlenden Gleichgewichts“ machte sich Marion Jacobs zur Richtschnur. Als Beispiel diene der folgende Vergleich. 1993 entstand, ohne Titel, die hier abgebildete kleine Collage (Blattgröße 21 x 15 cm) aus Fragmenten grauer Pappe, Gouache und Farbstift (Abb. 3). Auf eine Farbe beschränkt, arbeitet Marion Jacobs hier in äußerster Reduktion. Die fünf Elemente dynamisieren, schräg aufsteigend und oben überwölbend, das mitsprechende Geviert des weißen Blattes. Umspannung und Durchdringung von Form und Fläche, von dunkel und hell treten in einen subtilen Dialog. Eine verwandte Ökonomie hinsichtlich des beschriebenen Austausches der Mittel bei einem ähnlichen Miteinander von Einbettung und Überwölbung und von „überspringenden“   Linien finden sich in der Collage Portrait Josette Gris von 1917 (Abb. 4) von Laurens – nur hier, dem Thema entsprechend, ungleich witziger und abbildnaher.

Auch der Scherenkünstler Henri Matisse hat in seiner heiteren Treffsicherheit und Vitalität Marion Jacobs inspiriert. Angesichts ihrer Schattenfigur von 1998, die eine Einladungskarte zu einer Ausstellung in der Galerie Dreiseitel schmückt (Abb. 5), fühlt man sich unmittelbar an Matisse‘ Malerbuch Jazz (1943 – 1947) erinnert. Dieses Buch besaß die Künstlerin als Printausgabe. Auch gingen bei Valentien verschiedene Originalgraphiken durch ihre Hände und selbstverständlich kannte sie auch Matisse‘ Künstlerkapelle in Vence. Jacobs Titelgebung Schattenfigur, die Spannkraft der dargestellten Figur und deren schwarze Silhouettierung berühren sich unmittelbar mit Matisse´ schwarzen springenden, tanzenden oder fallenden Figuren, wie sie Jazz in vielfältigster Bedeutung durchziehen. Am ehesten drängt sich ein Vergleich mit Ikarus (Abb. 6) auf, der wohl bekanntesten Gestalt des ganzen Buches – und dies trotz oder gerade wegen der unübersehbaren Unterschiede.

Jacobs Schattenfigur, die sich dem Betrachter von ihrer Rückseite her zu zeigen scheint, wirkt kraftgeschwellt. Weit hat sie ihr rechtes Bein hochgeworfen, das von einem Spruchband bedeckt wird. Die rechte Schulter stößt zur verrätselten Schrift vor – ist es Sanskrit? -, die das Spielfeld der Fläche unterhalb eines angedeuteten Quadrats abteilt. Marion Jacobs hat in manchen ihrer Collagen durchaus auch Schriftzeichen verwendet. So könnte auch das Quadrat ein leeres Blatt meinen und oben, schon von einem Papierstreifen bedeckt, auf eine künftige Collage deuten. So dürfte die Schattenfigur als eine Art Stellvertreter für die Künstlerin zu lesen sein und mit ihrem ganzen Aktivismus für den ungebrochenen Schaffensdrang der 56-jährigen einstehen.

Auch in Ikarus ist, wie bekannt, nicht wenig von Matisse‘ Künstlerschicksal eingegangen. Das Buch Jazz schuf der Franzose größtenteils mitten im Krieg nach seiner schweren Krebserkrankung, noch als Rekonvaleszent an das Bett gefesselt. Dargestellt ist, wie Ikarus aus dem sternendurchstrahlten tiefblauen Firmament in seinen Tod fällt. Wie ein Tänzer gleitet er geneigten Hauptes herab. Noch lebt er. Sein Herz schlägt als kleiner feuriger Ball in hellem Rot. In der Literatur wird stets auf Matisse‘ Kenntnis von Baudelaires Gedicht aus den Fleurs du Mal „Le Plaintes d’un Icare“ verwiesen, worin es auf den Künstler bezogen heißt: „Vergebens sucht ich im All/ Grenze und Mitte dieser Welt/ Vor irgendeinem Feuerball/ Mein Flügelpaar zerfällt; Liebe zum Schönen mich verbrennt/ (brule par l’amour du beau)“. (3) Auch Picassos großes Wandbild, das er 1958 für die Unesco fertigstellt, spricht im Sturz des Ikarus von der Gefährdung des Künstler-Menschen. Wolfgang Mattheuer gewinnt dem Ikarus-Künstlermotiv aus leidvoller Erfahrung eine aktuelle politische Dimension hinzu. Die Reihe ließe sich mit Bernhard Heisig, Jürgen Brodwolf, Horst Antes u.a.m. noch lange in die Gegenwart ausziehen. (4) Nach alledem bleibt festzuhalten, dass Marion Jacobs 1998 dem todgeweihten Ikarus von Matisse mit ihrer Schattenfigur gleichfalls aus der Selbsterfahrung heraus eine vergleichbare schwarze Silhouettenfigur, aber nunmehr mit dem Ausdruck der künstlerischen Lebenszuversicht, gegenüberstellt.

Zu dieser Mitteilung von Positivität hatte die Künstlerin damals allen Grund. 1998 konnte sie bereits auf einen ca. fünfjährigen Aufschwung in ihrer Collagen-Kunst zurückblicken. Ihre Kompositionen hatten inzwischen zunehmend an gestalterischer Souveränität, Dichte, Ernst zugenommen (vgl. Abb. 7 – 9). Und weitere Steigerungen sollten folgen. Zu ihnen zählt unbedingt die 1999 entstandene Werkgruppe Hommages a Oteiza (Abb. 10 – 12). Im Vorjahr hatten sich Marion Jacobs auf einer Einzelausstellung in EL MACBA in Barcelona die abstrakten Eisenskulpturen des großen baskischen Bildbauers in die Seele gebrannt. Mit Alfaro, der Oteiza gut kannte und sehr schätzte, hat sie sich verschiedentlich über den Meister ausgetauscht. Zu Recht konnte sie im Gespräch mit der Verfasserin, temperamentvoll wie sie war, dessen mangelnde Beachtung hierzulande beklagen.

An den Collagen der Oteiza-Hommagen besticht sofort die Klarheit und konzeptuelle Schlüssigkeit, mit der die Künstlerin bestimmten Arbeiten von Oteiza auf der Spur bleibt. Im Blick auf die drei hier ausgewählten Arbeiten (Abb. 10 – 12) bieten sich besonders Oteizas Eisenskulpturen Leere Kästen (Abb. 13, 14) von 1958 an. Sie konnte die Künstlerin in Barcelona im Original studieren und hatte sie zudem im dazugehörigen Katalog jederzeit vor Augen. Die Erfahrung der aufgesprengten Kästen, aus denen der Raum heraustritt, sich dabei seiner stereometrischen Umklammerung entledigt und dennoch an das maßgebende Geviert gebunden bleibt, genau diese ambivalente Erfahrung von Raum-Gebundenheit und zugleich von Raum-Befreiung sucht Jacobs in die Fläche zu bannen. Bei ihr steht jeweils das klar ausgezeichnete hohe Rechteck für das Gehäuse. Es gibt das Maß vor. Eindringende farbige Dreiecke wetteifern mit dreieckigen Leerflächen, durch die der Papiergrund greift. Gemeinsam suchen sie den Raum dynamisch zur Tiefe hin aufzuschließen. Die Scharfkantigkeit und die Entschiedenheit der Flächenführung entsprechen auf eindrückliche Weise Oteizas dramatischem Zugriff im Eisen.

Überblickt man Jacobs gesamtes Collagenwerk, so scheint sich ihre so offenkundige Nähe zur Skulptur in den letzten zehn Jahren mehr und mehr Bahn gebrochen und ihren eigenen Ausdruck auf der Fläche erobert zu haben. (5). In diesem Sinne strahlen die Collagen gerade der letzten Schaffensjahre eine eigene Größe, Stille und Raumhaltigkeit aus – als wiesen sie, gleichsam sub spezie aeternitatis, in jene Gegenwart des Geistes, in die die Künstlerin für uns viel zu früh abgerufen wurde.

 

  • Frankfurter Allgemeine Zeitung, Kunsthandel, 12.4.2008
  • Zitiert nach Christa Lichtenstern, Metamorphose in der Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 2, Metamorphose. Vom Mythos zum Prozessdenken. – Ovid-Rezeption, Surrealistische Ästhetik. Verwandlungsthematik der Nachkriegskunst, Weinheim 1992, S. 346
  • Baudelaire, Oeuvres Completes, Paris 1968, S. nn
  • Vgl. Ausstellungskatalog Ost-westlicher Ikarus. Ein Mythos im geteilten Deutschland, bearb. v. Börsch-Supan, Jörg Heiko Bruns, Max Kunze u.a.m
  • So schrieb schon Brigitte Lohkamp 1996 in ihrer instruktiven Einführung: „Das skulpturale Moment ist das Bindeglied, die Kontinuität in der Entwicklung der letzten Jahre.“ Vgl. Ausst.Kat. Marion Jacobs, Collages/Collagen 1994/1995, Galeria Joan Gaspar, Barcelona/ Galerie Dreiseitel, Köln, Barcelona 2001, o.P.